Ausbildungscharta

Präambel

Die anthroposophisch orientierte Heilpädagogik und Sozialtherapie (siehe Anm. S. 2) ist eine weltweit verbreitete Bewegung. Ihre beruflichen Bildungszentren sind eingebettet in ihre jeweiligen kulturellen, sozialen und bildungspolitischen Bezüge. Da sich die lokalen Arbeitsfelder fortwährend verändern und immer wieder neue Tätigkeitsbereiche entstehen, unterscheiden sich gleichfalls die daraus resultierenden Anforderungen an die jeweiligen Formen der beruflichen Bildung.

Berufliche Bildungsgänge für anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie befähigen Studierende dazu, vor dem Hintergrund des von Rudolf Steiner entwickelten Menschenverständnisses in komplexen Lebenssituationen professionelle Hilfe und Unterstützung anzubieten. Dabei wird der geistige Wesenskern jedes Menschen als intakt und unverletzlich erachtet. Entwicklungsstörungen und Behinderungen können auftreten, wenn seelische, körperliche oder soziale Widerstände der eigenen individuellen biographischen Verwirklichung entgegenstehen. Bildungsgänge der anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie befähigen Studierende, Menschen mit Beeinträchtigungen bei ihrer Selbstverwirklichung zu unterstützen. Was sie weltweit eint, ist ihre Orientierung am anthroposophischen Menschenverständnis und die international vernetzte Zusammenarbeit an den Grundlagen des Bildungsgeschehens.

Hierzu zählen:

  1. das Verständnis jedes Menschen als Akteur seiner Biographie und die Befähigung, Menschen mit Beeinträchtigungen bei der Gestaltung eines Lebensraumes zu unterstützen, der ihre Selbstverwirklichung bestmöglich fördert
  2. das Studium geschichtlicher, gesellschaftlicher und fachwissenschaftlicher Dimensionen von Behinderung sowie die Erarbeitung und Vertiefung des von Rudolf Steiner begründeten Verständnisses der menschlichen Entwicklung
  3. ein Qualifikationsprofil, das die Lernenden dahin führen soll, Situationen in ihrer Einmaligkeit wahrzunehmen und zu verstehen, um vor dem Hintergrund ihrer fachlich-methodischen Fähigkeiten in der individuellen Begegnung intuitiv handeln und das Geschehene reflektieren zu können
  4. Lernwege, die über eine künstlerische Durchdringung von theoretischem Studium einerseits und praktischem Erfahrungslernen andererseits zum Erwerb dialogisch-gestalterischer Fähigkeiten führen
  5. die Entwicklung einer Kultur der beruflichen Bildung, in der durch kollegiale Zusammenarbeit unter Einbeziehung der Studierenden sowie durch lokal und international vernetzte Kooperation die Grundlage einer an gemeinsamen Leitbildern orientierten Arbeit gelegt wird
  6. die fortwährende fachliche Weiterentwicklung der Bildungsgänge durch Selbstevaluation, intensiven Dialog mit anderen konzeptionellen Ansätzen und eine eigenständige Forschungskultur.

Die vorliegende Charta stellt die gemeinsame Grundlage der beruflichen Bildungsarbeit dieses internationalen Netzwerkes dar. Sie beschreibt die Grundprinzipien in der Gestaltung von Bildungswegen für Menschen, die im Sinne der anthroposophischen Anthropologie tätig werden, um Menschen mit Unterstützungsbedarf zu fördern und zu begleiten und um inklusive und zukunftsfähige Sozialformen zu entwickeln. Sie ersetzt damit in der internationalen Zusammenarbeit das Handbuch für Ausbildungen in Heilpädagogik und Sozialtherapie (2001), das bislang den Orientierungsrahmen der anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie gebildet hatte.

Diese Bildungswege sind Ausgangspunkt für eine nachhaltige professionelle Tätigkeit und für eine Berufsbiografie, die die Studierenden dazu qualifiziert, individuelle, an der unverletzlichen Würde des einzelnen Menschen orientierte Impulse immer wieder neu zu verwirklichen. In kollegialen und gemeinschaftlichen Zusammenhängen wirken sie so an der Gestaltung einer humanen Zukunft mit. Auf Basis der anthroposophischen Geisteswissenschaft befinden sich die beruflichen Bildungsgänge dieses Netzwerkes innerhalb des allgemeinen gesellschaftlichen Diskurses, der aktuellen Entwicklungen in diesem Berufsfeld und der für dieses Feld relevanten Wissenschaften.

Internationale Ausbildungscharta für anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie

- Medizinische Sektion der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum -

- Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie -

- Internationaler Ausbildungskreis -

1. Aufgabenfelder

Die anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie sieht es als ihre Aufgabe an, Menschen mit Unterstützungsbedarf in ihrem Bedürfnis nach individueller Entwicklung und einem gelingenden, sozial eingebundenen Leben zu begleiten und zu fördern.

Ihr Handeln greift dabei auch gestalterisch in das mikro- und das makrosoziale Umfeld ein. Geleitet von einer umfassenden Erkenntnis menschlicher Lebens- und Entwicklungsbedürfnisse will sie aktiv an der Gestaltung von Sozialkulturen mitwirken, die Teilhabe, Inklusion und eine autonome Entfaltung des Einzelnen innerhalb seiner sozialen Beziehungen ermöglichen.

Das Verständnis von Behinderung als Tatsache des menschlichen Lebens und Zusammenlebens unterliegt einem kontinuierlichen Wandel. Damit sind auch die Arbeitsfelder, die sich mit dieser Thematik befassen, in ständiger Veränderung begriffen. Hierbei stehen heute immer mehr die dialogische Beziehung und das partnerschaftliche Handeln im Zentrum der professionellen Interaktion. Es geht darum, Menschen in unterschiedlichen Lebenslagen dabei zu unterstützen, ihren jeweils eigenen Weg zu finden, um in Gemeinschaft und Gesellschaft wirksam werden zu können.

Aus dieser Aufgabenstellung ergibt sich ein weites Feld von Arbeitsbereichen, in denen spezifische Lebenssituationen konkret auszugestalten sind und Entwicklungsprozesse in allen Lebensphasen auch unter schwierigen Bedingungen initiiert werden sollen.

Neben den klassischen Aufgabenfeldern der anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie in Bildungseinrichtungen, in unterstützten Lebens- und Arbeitssituationen sowie in klinischen und therapeutischen Zusammenhängen entstehen neue Arbeits- und Lebensfelder, um Menschen, deren physische, seelische oder geistige Integrität bedroht ist, in ihrer persönlichen und sozialen Entwicklung zu unterstützen. Die anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie versteht diese Hilfeleistung auch als Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung. Zentrales Motiv dieses Impulses ist die Entwicklung neuer inklusiver Sozialformen, die immer mehr dem gesamten Spektrum menschlicher Daseinsmöglichkeiten Rechnung tragen.

Die berufsbezogenen Bildungsgänge der anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie qualifizieren die Studierenden, sich in ihrem späteren Arbeitszusammenhang nicht nur als Dienstleister zu verstehen, sondern gerade in der Bildungs-, Entwicklungsund Beziehungsarbeit ebenso wie in der Beratung und Begleitung von Menschen in besonderen Situationen und in oft sehr prekären Lebenslagen ein großes Spektrum an Gestaltungsmöglichkeiten zu erkennen. Ihre besondere Fachlichkeit besteht in ihrem Wissen über den Menschen sowie in ihrer Fähigkeit, das soziokulturelle Umfeld mit zu gestalten und an gesellschaftspolitischen Prozessen mitzuwirken.

2. Verständnis von Behinderung

Schon älteste Überlieferungen zeugen davon, dass Menschen mit verschiedenen sensorischen, motorischen, physischen, kognitiven, emotionalen und sozialen Beeinträchtigungen wahrgenommen wurden und man ihre Rolle in der Gesellschaft thematisiert hat. Rückblickend zeigt sich ein breites Spektrum verschiedenster Formen des Ausschlusses und der Eingliederung, oft durch unterschiedliche positiv oder negativ besetzte Sonderrollen, die diesen Menschen zugeschrieben wurden. Erst seit dem Zeitalter der Aufklärung hat sich eine Auffassung der Hilfe für Menschen mit Behinderungen entwickelt, die zugleich aus humanistischen Motiven wie auch aus einem Verständnis der Entwicklungsfähigkeit jedes Menschen geprägt wird.

Zu einem weltweiten Verständnis, dass Menschen mit Behinderung gleichberechtigte Bürger sind, trägt insbesondere die Verankerung eines neuen Begriffs von Behinderung in verschiedenen Instrumenten internationaler Zusammenarbeit bei. Diese beruhen auf Vereinbarungen der Vereinten Nationen (UNO) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO). In der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) der WHO wird Behinderung als ein Phänomen verstanden, das sich aus der Wechselwirkung zwischen individuellen gesundheitlichen Beeinträchtigungen und den Strukturen des gesellschaftlichen Umfelds ergibt. Das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen stellt aus dem universellen Menschenrechtsgedanken heraus die unabdingbare Forderung, allen Menschen mit Unterstützungsbedarf den vollen Zugang zu sämtlichen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens zu ermöglichen und ihnen gleichzeitig den Schutz zu gewähren, den sie zu einem gelingenden Leben benötigen.

Schon seit ihrer Begründung im Jahr 1924 hat die anthroposophische Heilpädagogik Behinderung als eine besondere Ausprägung des Allgemein-Menschlichen anerkannt und versucht, jeden Menschen als ein komplexes Wesen in einem dynamischen Entwicklungsprozess wahrzunehmen. Der eigentliche Wesenskern als geistiger Träger der Individualität, der sich durch wiederholte Erdenleben hindurch kontinuierlich weiterentwickelt, wird in jedem Menschen als intakt und unverletzlich erachtet. Im Zuge seiner biographischen Verwirklichung in der Welt muss er sich mit den Widerständen seiner seelischen und leiblichen Bedingungen auseinandersetzen, um seine individuellen Impulse in die Welt tragen zu können.

Jeder Mensch ist daher entwicklungsfähig, bedarf aber der Begleitung und Unterstützung durch andere. Aufgaben für die anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie ergeben sich überall dort, wo die Verfügbarkeit einer Begleitung und Unterstützung, die den individuellen Bedürfnissen gerecht wird, aufgrund der Komplexität einer Entwicklungssituation oder der eingeschränkten Möglichkeiten des sozialen Umfeldes nicht ohne weiteres gewährleistet werden kann.

Berufliche Bildungsgänge regen die Studierenden zu einer vertieften Durchdringung des historischen und aktuellen Behinderungsbegriffes in all seinen Dimensionen an. Darüber hinaus wird in ihnen ein reflektiertes Verständnis der Konzepte erarbeitet, die von Rudolf Steiner begründet wurden und seitdem vielfältig weiterentwickelt worden sind. Zusammen mit aktuellen Leitmotiven, Theorien und Konzepten bilden sie die Grundlage für ein ethisch fundiertes, dialogisch angelegtes und an den individuellen Bedürfnissen des Menschen mit Unterstützungsbedarf orientiertes Handeln.

3. Qualifikationsprofil

Ziele beruflicher Bildung

Damit der einzelne Mensch selbst wirksam werden kann, muss er in seinem Lebensumfeld geeignete Bedingungen für seine leibliche, seelische und geistige Entwicklung sowie für seine biografische Entfaltung vorfinden. Daraus ergibt sich die Aufgabe, die spezifischen Bedürfnisse individuell zu erkennen sowie die entsprechenden Bedingungen und Ressourcen im sozialen Feld zu schaffen und zugänglich zu machen. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, ist eine tiefgreifende und umfassende Kenntnis der Bedürfnisse des Einzelnen notwendig.

Berufliche Bildungsgänge qualifizieren die Studierenden, Menschen mit Beeinträchtigungen in ihrer Lebensbewältigung auf leiblicher, seelischer und geistiger Ebene zu unterstützen und bei der Verwirklichung ihrer individuellen biographischen Intentionen zu fördern. Studierende lernen, Begegnungen zu gestalten und zu begleiten, um den ihnen anvertrauten Menschen zu helfen, ihr Potential zu realisieren und ihren Platz in der Gemeinschaft zu finden. Hierfür lernen sie, höchst unterschiedliche Lebenslagen zu verstehen, unter Einbezug der Betroffenen Lösungsansätze zu erarbeiten und geeignete Maßnahmen zu planen, durchzuführen sowie zu evaluieren. Die Studierenden werden in die Lage versetzt, in einem Team und auch interprofessionell zusammen zu arbeiten, sie beteiligen sich aktiv an Organisationsprozessen und haben Einblick in administrative Aufgaben.

Kenntnisse, Haltungen, Fähigkeiten

Berufliche Bildungsgänge qualifizieren Studierende nicht nur dazu, vor dem Hintergrund theoretischer oder erfahrungswissenschaftlicher Konzepte methodengeleitet zu reagieren. Das individuelle Ziel einer Maßnahme soll für sie vielmehr aus der direkten menschlichen Begegnung hervorgehen, indem sie lernen, situationsbewusst und geistesgegenwärtig zu handeln.

Dies kann verstanden werden als eine Art künstlerisch gestaltende Form des Handelns. Pädagogische und soziale Prozesse sind immer darauf ausgerichtet, Entwicklungsprozesse zu stimulieren. In der Ausbildung wird daher auch die Frage nach der eigenen Entwicklungsbereitschaft und Entwicklungsfähigkeit an die Studierenden herangetragen. Fähigkeiten zur Selbstreflexion, Selbsterkenntnis und Selbsterziehung, die Bereitschaft, Rückmeldungen anzunehmen und sich selbst verwandeln zu können, sind Kernkompetenzen, deren Entwicklung angestrebt wird.

Berufliche Bildungsgänge unterstützen die Studierenden somit auch bei der Entwicklung innerer Haltungen. Diese bilden neben dem Erwerb von Kenntnissen, sozialen Fähigkeiten und Handlungskompetenzen eine vertiefte persönliche Grundlage für die soziale und pädagogische Arbeit.

Die Studierenden werden angeregt, aktiv am Fachdiskurs teilzunehmen, die eigene professionelle Situation selbstkritisch zu hinterfragen und weiterzuentwickeln.

Heilpädagogisches und sozialtherapeutisches Handeln ist häufig damit verbunden, in das Leben eines anderen Menschen einzugreifen. Die damit verbundenen ethischen Fragen und Probleme müssen thematisiert werden.

Berufliche Bildungsgänge sensibilisieren die Studierenden für den Aspekt der Machtausübung, der bei jeder Interaktion mit einem Menschen mit Unterstützungsbedarf zum Tragen kommt. Unter Würdigung jeder Einzelpersönlichkeit werden die Studierenden ermutigt und befähigt, Freiheit in Verantwortung vor dem Hintergrund berufsethischer Leitmotive zu erüben.

4. Lernwege

Berufliche Bildungsgänge unterstützen Studierende dabei, in sich beständig wandelnden menschlichen und sozialen Situationen Fähigkeiten zu eigenverantwortlichem, fachlich fundiertem und ethisch reflektiertem Handeln zu entwickeln. Dazu wird die methodische Gestaltung der Lernwege an einem umfassenden, anthroposophisch-geisteswissenschaftlich begründeten Verständnis menschlicher Lern- und Entwicklungsbedingungen orientiert sein.

Heilpädagogische und sozialtherapeutische Praxis bedingen gestalterisches Handeln. Hier entstehen die Zielsetzung und Handlungsrichtung immer wieder neu aus der Begegnung mit dem Anderen. Das künstlerische Element spielt dabei im Zusammenhang mit der Schulung personaler Kompetenz eine besondere Rolle.

Berufsqualifizierende Bildungsgänge in anthroposophischer Heilpädagogik und Sozialtherapie sind verankert in angeleiteter und begleiteter Praxis. Die im Praxisfeld gemachten Erfahrungen werden methodisch erschlossen, im Dialog verarbeitet und durch die thematischen Studieninhalte vertieft. Dadurch stehen theoretische Konzepte nicht beziehungslos im Raum, sondern erhalten ihren Sinn durch den Rückbezug auf die erlebte Praxis der Studierenden. Neu gewonnene inhaltliche Erkenntnisse führen ihrerseits wiederum zu einer Vertiefung und Verwandlung der sich entwickelnden Handlungspraxis, aber auch des Curriculums.

Um diese Verschränkung von Handlung und Reflexion zu erreichen, greift der Bildungsgang auf ein vielfältiges didaktisches Methodenspektrum zurück. Dabei ergänzen sich Elemente wie Einzelbegleitung, Dialog, Gruppenarbeit, individuelles Studium, Projektarbeit, Vortrag und Übungsprozesse. Gerade die künstlerischen und übenden Elemente der Ausbildungsgänge schaffen die Möglichkeit, theoretische Inhalte durch Wahrnehmungen und Erlebnisse zu erschließen, sowie die Grundelemente sozialer Prozesse experimentierend kennenzulernen und zu handhaben. Der künstlerisch-übende Ansatz zieht sich daher durch die Gesamtgestaltung des Bildungsganges als vereinigendes Element im Umgang mit Theorie und Praxis. In der beruflichen Bildung wird das theoretisch und praktisch Erworbene mit künstlerischen und reflexiven Methoden so durchdrungen, dass sich beide Elemente gegenseitig bereichern und ergänzen können.

Die Bildungsgänge ermöglichen selbstverantwortetes Lernen, dessen Prozesse für die Studierenden stets transparent und nachvollziehbar sind. Dabei wird das Studium ergänzt durch Anregungen zu einem individuellen inneren Schulungsweg, der geeignet ist, die fachlichen Fähigkeiten zu vertiefen.

Berufliche Bildungsgänge machen auf die Heterogenität und Diversität individueller menschlicher Situationen aufmerksam und fördern die Dialogfähigkeit mit dem jeweiligen kulturellen Umfeld.

5. Berufliche Bildungskultur

Jede Ausbildungsstätte ist in ihre jeweilige regionale und nationale Bildungslandschaft eingebettet und bestrebt, sich mit anderen Initiativen der anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie zu vernetzen. Die Bildungsstätten verstehen sich nicht nur als Vermittler von Wissen und Methoden, sondern sehen ihre Aufgabe als umfassenden Bildungsauftrag unter Einbeziehung und Berücksichtigung der Studierenden, der Mentoren und der Praxisanleiter. Die Praxis ist dabei integraler Bestandteil des Bildungsprozesses. Dies erfordert eine enge Verknüpfung zwischen den Verantwortlichen beider Bereiche. Dadurch wird gewährleistet, dass Theorie und Praxis sich wechselseitig zur Weiterentwicklung anregen.

Seit ihrer Begründung ist die anthroposophische heilpädagogische und sozialtherapeutische Bewegung zu einem weltweiten Netzwerk gewachsen, das über 700 Einrichtungen in mehr als vierzig Ländern umfasst. Als Forum der internationalen Zusammenarbeit dient die Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie, in der Länder und Fachbereiche repräsentiert sind. Diese Konferenz ist der Medizinischen Sektion der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum in Dornach/Schweiz angeschlossen. Sie trifft sich einmal im Jahr zum Austausch und zur Bearbeitung von wichtigen Themen.

Aus den Bedürfnissen der Praxis heraus entstanden die heute über vierzig beruflichen Bildungsstätten in mehr als dreissig Ländern, die im Internationalen Ausbildungskreis als ihrem weltweiten Netzwerk miteinander verbunden sind. Sie repräsentieren ein breites Spektrum berufsbefähigender Bildungsgänge auf den unterschiedlichsten Ebenen und umfassen das gesamte Spektrum von an der Praxis orientierten beruflichen Bildungswegen über Fort- und Weiterbildungen bis hin zu universitären Studiengängen.

Die im Internationalen Ausbildungskreis zusammengeschlossenen Bildungseinrichtungen treffen sich jährlich, um an der Weiterentwicklung der Grundlagen und Methoden, an Fragen zur Qualitätsentwicklung und Forschung zu arbeiten, sowie ausbildungsbezogene Projekte zu initiieren.

Der Internationale Ausbildungskreis hat ein Verfahren zur Akkreditierung von Ausbildungsstätten entwickelt, das seine ideelle und ausbildungspraktische Grundlage in der hier vorliegenden Charta Berufliche Bildung hat. Diese Akkreditierung beruht auf einem Verfahren zur gegenseitigen Anerkennung in einem Prozess der Peer Evaluation. Die dazu angewandten Formen und Methoden wurden durch den Internationalen Ausbildungskreis anerkannt und werden durch die von ihm gewählte Anerkennungsgruppe durchgeführt.

Der Internationale Ausbildungskreis führt regelmässig Projekte zur Bildungsmethodik durch. So wurde z. B. mit Unterstützung durch die Europäische Union das Handbuch für Ausbildungen anthroposophischer Heilpädagogik und Sozialtherapie erarbeitet sowie eine internationale Ausbildung für Ausbildner durchgeführt.

Der weltweite Erfahrungsaustausch trägt zur Wahrnehmung und Vergleichbarkeit der sehr unterschiedlichen beruflichen Bildungsinitiativen bei. Die Kooperation ermöglicht eine Weiterentwicklung differenzierter Kulturen beruflicher Bildung auf einer gemeinsamen geistigen und methodologischen Grundlage. Durch die hierdurch angeregte gegenseitige Bereicherung und Erweiterung der jeweiligen Perspektive leistet der Internationale Ausbildungskreis auch eine weltumspannende soziale und kulturelle Arbeit.

6. Forschung und Entwicklung

Über die ständige Evaluation, kritische Reflexion und Weiterentwicklung ihrer eigenen didaktischen Formen und Inhalte hinaus erachtet das Netzwerk für berufliche Bildung es als seine Aufgabe, durch gezielte Forschungstätigkeit den Kenntnisstand im Feld anthroposophischer Heilpädagogik und Sozialtherapie zu erweitern und zu vertiefen. Diese Forschungstätigkeit findet im Dialog mit dem fachwissenschaftlichen Umfeld statt.

Zur Durchdringung der anthroposophischen Grundlagen werden Studien zur menschenkundlichen Erschließung der Grundlagenwerke, eine vielschichtige Aufarbeitung der historischen Entwicklung der anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie sowie die Erforschung der gelebten Praxis betrieben.

Die aktuelle Verwirklichung des beruflichen Bildungs- und Tätigkeitsimpulses wird wissenschaftlich begleitet und zur Qualitätsentwicklung durch Feldstudien und Fallbeschreibungen sowie durch die Erforschung konkreter Umfeldbedingungen evaluiert.

Zur Erweiterung der Erkenntnisperspektiven und zur Entwicklung innovativer Ansätze werden eigenständige Forschungsprojekte gefördert. In diesem Kontext werden auch eigene Methoden entwickelt, um die spirituelle Dimension der menschlichen Wirklichkeit angemessen einzubeziehen.

Für den wissenschaftlichen Diskurs im eigenen Netzwerk und mit anderen Konzeptionen sozialer Arbeit wird die Veröffentlichung der Forschungsresultate in Büchern, Fachzeitschriften und im Rahmen von Fachtagungen initiiert und unterstützt.

Diese Charta wurde in den Konferenzen des Internationalen Ausbildungskreises der Jahre 2014 und 2015 in Kassel entwickelt und dort am 28.April 2016 verabschiedet.

Impressum:

Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie
Medizinische Sektion
Freie Hochschule für Geisteswissenschaft Goetheanum
Ruchti-Weg 9, 4143 Dornach, Schweiz
www.khsdornach.org

Anmerkung:

Mit der Bezeichnung Heilpädagogik und Sozialtherapie ist hier das gesamte Feld professioneller Tätigkeiten auf den Gebieten des Sozialwesens, der sozialen Arbeit und der sozialen und pädagogischen Unterstützung von Menschen in schwierigen Lebenslagen gemeint. Aufgrund der multi-professionellen Vielfältigkeit dieses Arbeitsfeldes, das sich außerdem in seinen nationalen, regionalen und immer mehr auch in seinen globalen Zusammenhängen ständig weiterentwickelt, gibt es keine allgemein akzeptierten und universell gültigen Bezeichnungen, die dieses Feld als Ganzes beschreiben. Stellvertretend wird hier die Bezeichnung Heilpädagogik und Sozialtherapie verwendet, die sich innerhalb der anthroposophisch orientierten Praxis auf diesem Feld als Überbegriff etabliert hat. Diese Verwendung sollte nicht als Präferenz verstanden werden, sondern lediglich als Platzhalter für diejenigen Begriffe, die in dem jeweiligen Kontext angemessen erscheinen.